Überraschende Sichtweisen in der 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der EKD
Mit den Ergebnissen der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsstudie der EKD rücken die Kirchengemeinden in den Fokus des Interesses. Das ist – verglichen mit früheren Studien – neu und eröffnet neue Einsichten in die Beschreibung kirchengemeindlichen Lebens.
Von Gerhard Wegner
Die Fokussierung auf Kirchengemeinden überrascht deswegen, weil nicht zuletzt die Tradition der KMU selbst mitursächlich für eine Ausblendung der Kirchengemeinden aus vielen Bereichen der empirisch sozialen Erforschung der kirchlichen Praxis der letzten Jahrzehnte gewesen ist. Kirchengemeinden galten spätestens seit den End60er Jahren für viele – unter Bezug auf eine Reihe von Untersuchungen aus den 50er Jahren – als im Kern bornierte, milieuverengte, überalterte und sozial letztendlich marginalisierte Restbestände des volkskirchlichen Christentums. Sich näher mit ihnen zu beschäftigen galt deswegen als relativ langweilig; die große Zahl der kirchlich distanzierten Mitglieder zog wesentlich mehr Interesse auf sich, als die Lebenswelt der hochverbundenen Kirchenmitglieder in den Kirchengemeinden. Diese Interessenlage war – und ist – insofern problematisch, als die Kirchen mindestens 2/3, wenn nicht noch mehr ihrer gesamten Ressourcen in eben diese Kirchengemeinden investieren. Natürlich haben sich zum Glück neben den Kirchengemeinden andere Formen kirchlicher Beteiligung und Bindung ausgebildet – aber die Bedeutung der Kirchengemeinden haben sie ohne Zweifel nicht erreicht. Sich sozialwissenschaftlich kaum um das zu kümmern, was dort geschieht, stellt deswegen einen argen Realitätsverlust dar – und zwar ganz gleich, wie man die Praxis der Kirchengemeinden letztendlich bewertet. Wer realistisch Entwicklungsperspektiven der Volkskirche in den Blick nehmen will, der muss sich mit der Lage in den Gemeinde befassen (wenn auch natürlich nicht nur!).
Kirchengemeinde = Evangelische Kirche
Es gibt nun in der KMU 5 eine Zahl, die zunächst übersehen worden ist, die die Bedeutung der Kirchengemeinden schlagartig in ein helles Licht rückt: Demgemäß fühlen sich 45% der Kirchenmitglieder ihrer Ortsgemeinde sehr und ziemlich verbunden und ebenso etwa 44% der evangelischen Kirche insgesamt. Die Landeskirchen, andere evangelische und diakonische Einrichtungen fallen demgegenüber weit ab. Nähere Berechnungen ergeben dann, dass zwischen der Verbundenheit mit der Ortsgemeinde und der der evangelischen Kirche keine Differenz unter den Befragten besteht. Die KMU 5 macht insofern ausdrücklich deutlich, dass die Verbundenheit mit der Ortsgemeinde mit der Verbundenheit mit der evangelischen Kirche gleichzusetzen ist und umgekehrt: Wer sich der Ortsgemeinde verbunden fühlt, fühlt sich in der Regel auch der evangelischen Kirche generell verbunden. Ja, die starke Verbundenheit (»sehr« verbunden) liegt bei der Ortsgemeinde mit 22% noch höher als bei der Kirche insgesamt mit nur 15%! Damit ist die Kirchengemeinde – ganz nüchtern und rein faktisch konstatiert – nach wie vor die mit Abstand wichtigste Drehscheibe der Kirchenmitgliedschaft. Wobei man allerdings gleich kritisch dazu bemerken kann: wenn sie so bedeutsam ist, muss ihre Praxis auch mit ursächlich für die offenkundigen Verfallserscheinungen kirchlicher Performanz sein.
Die zwingende Folge ist, dass die immer wieder geäußerte Vermutung, es gebe eine große Gruppe von Evangelischen, die sich zwar der Kirche insgesamt, aber nicht der Kirchengemeinde verbunden fühlen würde, nicht (mehr) bestätigen lässt. Damit sind die Ortskirchengemeinden eindeutig die Basis der Arbeit der evangelischen Kirche – wenn auch natürlich längst nicht alles! – und deswegen muss mehr Aufmerksamkeit auf das gerichtet werden, was sie tun und wie sie es tun. Bei einem Anteil von 45% kann man von etwa 10 Mio. Menschen ausgehen, die sich über die Kirchengemeinde der Kirche insgesamt verbunden fühlen. Sie sind damit das zentrale Feld in dem sich zunächst einmal relativ verlässlich Resonanzen auf die Kommunikation der evangelischen Kirche erwarten lassen – keine kleine Zahl!
Lesen Sie hier den ganzen Artikel (Deutsches Pfarrerblatt – Heft: 1/2016): http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=3974
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