Im Jahr 1999 und 2000 gab der Initiativkreis „Kirche in der Wettbewerbsgesellschaft“ zwei Texte heraus, die sich bereits damals kritisch mit den Reformbemühungen in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) auseinandersetzten und vieles vorausnahmen, was auch heute diskutiert wird. Der Initiativkreis kann auch als Vorläufer von „Aufbruch Gemeinde“ in Bayern angesehen werden. Wir machen beide immer noch lesenswerte Texte mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber wieder zugänglich.
Aus: Evangelium hören I – Wider die Ökonomisierung der Kirche und die Praxisferne der Kirchenorganisation, 1999:
These IV: Das strukturbildende Paradigma einer hörenden und lernenden Kirche ist die gottesdienstliche Gemeinde.
Gottesdienstliche Existenz lernen statt Gemeindeentwicklung betreiben.
Mit der gemeinsamen Praxis als Kennzeichen der hörenden und lernenden Kirche hängt es zusammen, dass die Kirche nicht Gemeinden „hat“, die sie entwickelt, sondern aus Gemeinden besteht. Das „Gemeindeprinzip“ bildet die Grundstruktur einer Kirche, die sich als hörende und lernende – paradigmatisch – im Gottesdienst versammelt. Im Gottesdienst erfährt die Gemeinde auf paradigmatische Weise, was das Leben der Kirche in allen Vollzügen prägen soll. Der Gottesdienst ist keine „Veranstaltung“ in der Angebotspalette der Kirche; er ist vielmehr das Ursprungsgeschehen der Kirche, in dem und aus dem die Kirche erst zustande kommt (CA V). Als solches Ursprungsgeschehen führt der Gottesdienst gewissermaßen in die „Grammatik“ christlichen Lebens und Handelns ein, der in allen Sprach- und Lebensäußerungen der Kirche zu entsprechen ist.
Die gottesdienstliche Gemeinde als „Maß“ der Kirche verstehen heißt nicht, dass die Kirche „nur“ am Sonntagmorgen zu finden ist. Ebenso sinnlos wäre es, diesen theologischen Zusammenhang mit einer Besucherstatistik in Frage zu stellen. Die Frage lautet vielmehr umgekehrt: Wie kann in ihrem Gottesdienst deutlich werden, dass die zentrale Praxis der Kirche eine kommunikative, ja politische Praxis ist: ein „Amt“, an dem die Fülle der Charismen tätigen Anteil nimmt, anstatt das marktgemäße Prinzip von professionellen Akteuren auf der einen Seite und Rezipienten auf der anderen Seite widerzuspiegeln?
Aufmerksam sein auf die Nöte und Hoffnungen der Menschen statt Bedürfnisse befriedigen.
Ein solches Modell ist wirklichkeitsfremd, weil es unterstellt, dass die Akteure die Bedürfnisse der Adressaten kennen oder herausfinden können, statt dass alle Beteiligten darauf aufmerksam bleiben, woraus sie in ihrem Glauben, ihrer Hoffnung, ihrer ganzen Existenz leben können – und sich darin auch nicht durch Ersatzangebote täuschen lassen. So gilt es zu unterscheiden zwischen der notwendigen Aufmerksamkeit auf die Menschen und der unkritischen Orientierung an ihren „Bedürfnissen“. Was brauchen die Menschen wirklich? Nur das, was sie selbst wissen und angeben können? Das Eigentümliche, wozu die Kirche gerufen ist und rufen soll, ist doch vielmehr, im Licht des Evangeliums zu erkennen, was „noch nicht erschienen“ ist (1.Joh 1,3). Darüber lässt sich freilich im gottesdienstlichen Zusammenkommen und im alltäglichen Leben von Ortsgemeinden mehr erfahren als soziologische Erhebungen erfassen können.
Lesen Sie mehr:
Evangelium hören I (1999): https://www.aufbruch-gemeinde.de/download/evangeliumhoerenI.pdf
Evangelium hören II (2000): https://www.aufbruch-gemeinde.de/download/evangeliumhoerenII.pdf