Die evangelische Theologieprofessorin Isolde Karle von der Ruhr-Universität Bochum hat die Reformbestrebungen in der evangelischen Kirche hinterfragt. Diese sei geprägt von „protestantischer Dauerunruhe“, sagte Karle am Mittwoch auf dem hessischen Pfarrtag in Gießen. Der derzeitige „Alarmismus“ der Kirche erstaune jedoch, schließlich habe es in der Geschichte schon viel größere Krisen gegeben. „Dabei gerät aus dem Blick, dass vieles gelingt.“
Karle stellte die Annahme infrage, dass derzeit ein günstiger Markt für Kirchen besteht. In der Forschung sei umstritten, ob es tatsächlich einen „Religionsboom“ gebe oder ob nicht vielmehr die Säkularisierung weiter fortschreite – das zumindest legten aktuelle Studien nahe. Zudem gehe es bei dem angeblichen Religionsboom um eine Religion, die weitgehend ohne Gott auskomme.
Aufgrund ihrer eigenen Finanzkrise – eine Folge der „immensen Ausweitung“ von Stellen und Gebäuden seit den 1970er Jahren – suche die evangelische Kirche die Nähe zur Wirtschaft, kritisierte Karle. Religion werde degradiert zu einer „Dienstleistung auf dem Markt“. Doch für die meisten Mitglieder sei die Kirche keine Organisation wie jede andere. Sie solle vielmehr ein Gegenüber bilden, eine Art „Kontrastprinzip“ und das „Außer-Alltägliche“ repräsentieren.
Es sei paradox, dass die Kirche die Regeln des Marketings und der Mediengesellschaft beherrschen müsse, gleichzeitig aber in eine Glaubwürdigkeitskrise gerate, wenn sie diese übernehme. „Kirche ist für die Menschen die Kirche vor Ort“, sagte die Theologin. Für über siebzig Prozent der Mitglieder sei es wichtig, dass der Pfarrer ein Vorbild ist. Die Mitglieder nähmen Kirche vor allem über den Pfarrer wahr, weshalb der Pfarrberuf gefördert werden müsse.
(epd vom 14. Juni 2012)