Aus einem Interview mit Anna Stöber ( Kirche – gut beraten? Betrachtung einer Kirchgemeinde aus betriebswirtschaftlicher und funktionalistisch- systemtheoretischer Perspektive, 2005):
In Ihrer neuesten Publikation beim Carl Auer Verlag erarbeiten Sie die Differenz, die sichtbar wird, wenn man eine Kirchengemeinde aus betriebswirtschaftlicher und aus funktionalistisch-systemtheoretischer Optik beobachtet.
Wie sind sie vorgegangen?
Meine Vorgehensweise bei dieser Auseinandersetzung mit Beratung von Kirchengemeinde war ein Wechsel aus Empirie und Theorie.
Mir war aufgefallen, dass in der Presse, aber auch in Kirchengemeinden selbst, Kirche immer häufiger im Kontext wirtschaftlicher Fragestellungen auftauchte – also Verkauf von Kirchen, Gemeindefusion, Sparzwang und solche Sachen.
Ich habe mich dann damit beschäftigt, wem das sonst noch aufgefallen war und wie das Thema Kirche & Wirtschaft theoretisch reflektiert wurde. Dabei bin ich auch auf die McKinsey-Studie „Evangelisches München-Programm“ gestoßen. In dieser Studie werden Kirchengemeinden nach betriebswirtschaftlichen Kriterien analysiert, und dann werden aus dieser Analyse Vorschläge zur Optimierung abgeleitet. Diese Studie ist recht verbreitet und hat zu verschiedenen Folgeaufträgen von der evangelischen und der katholischen Kirche an McKinsey geführt. Allerdings hat die Umsetzung der Vorschläge auch nach einigen Jahren nicht zu den erwünschten Ergebnissen geführt – und mich hat interessiert: warum nicht?
Um das rauszufinden bin ich in drei Schritten vorgegangen: Erstens habe ich die McKinsey-Studie auf ihr Grundverständnis von Organisation und ihren Aufbau hin untersucht. Zweitens habe ich ausgehend von der frühen Systemtheorie einen alternativen Studienaufbau mit vor allem einem anderen Organisationsverständnis gewählt. Und drittens habe ich dann eine Kirchengemeinde hier in Berlin aus beiden Perspektiven untersucht.
Diese empirische Studie war äußerst aufschlussreich. Die Gemeinde hat mir nicht nur Zugang zu ihren sämtlichen wirtschaftlichen und historischen Dokumenten verschafft und mich bereitwillig über ein knappes halbes Jahr als teilnehmende Beobachterin in alle ihre Veranstaltungen vom Gottesdienst bis zum Posaunenchor aufgenommen; sondern die Gemeinde hat mir vor allem auch ermöglicht, gut dreißig Interviews mit Gemeindegliedern, Pfarrern, Kantorin und verschiedenen Vertretern übergemeindlicher Einrichtungen zu führen.
Zum Schluss habe ich dann die Ergebnisse der beiden theoriegeleiteten empirischen Studien verglichen.
Und wie sehen die Ergebnisse aus?
Die Antwort auf die Frage, warum betriebswirtschaftliche Optimierungsmaßnahmen in Kirchengemeinden nicht wirklich greifen, ist, dass sie den Kern der Stabilisierung von Kirchengemeinde zerstören. Betriebswirtschaftliche Vorschläge setzten bei der formalen Organisation an. Auch die McKinsey-Vorschläge zielen auf eine Stärkung von Steuerungs- und Kontrollinstanzen ab, um dann von da aus optimal entscheiden zu können. Das funktioniert bei Gemeinde aber nicht.
Um diesen Punkt zu sehen, ist es wichtig, Gemeinde nicht isoliert zu betrachten. Kirchengemeinde ist nur eine der drei Dimensionen Religion, Kirche als Organisation und Gemeinschaft. Religion ist dabei das ortsungebundene und ewige Band zwischen Gott und den Menschen, das mit der Taufe begründet wird und auch nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Die Kirche als bürokratische Organisation sorgt mit ihren über Hierarchie stabilisierten Rollen, Riten und Symbolen dafür, dass über Zeit, Raum und wechselnde soziale Verhältnisse hinweg bestimmte Strukturen wiedererkennbar bleiben. Und die konkrete Gemeinschaft vor Ort ist die „zweite Familie“, für die man sich verantwortlich fühlt, in der man sich entwickeln darf und die sehr zeitgebunden, sehr ortsgebunden und sehr abhängig von konkreten Personen jeweils ihre ganz eigene Geschichte entwickelt. Und nur wenn Religion, Kirchenbürokratie und die Gemeinschaft vor Ort zusammenwirken, funktioniert das, was man dann als Kirche oder Kirchengemeinde beobachten kann. Ohne die Inhalte der Religion und die Formen der Kirche würde die Gemeinschaft zur Freizeitveranstaltung unter anderen werden. Aber wenn eine Stärkung der bürokratischen Organisation auf Kosten der Freiheiten der Gemeinschaft vor Ort geht, dann geht auch dieses ganz individuelle Aufgehobensein, das Vertrauen und damit die Motivation zur Arbeit in und für diese Gemeinschaft verloren. Und man darf nicht vergessen, wie stark Gemeinden auch heute noch von ehrenamtlicher Mitarbeit abhängig sind. Außerdem darf man sich nicht wundern, dass so viele Leute aus der Kirche austreten, wenn sie Kirche nicht mehr als lebendige Gemeinschaft erleben.
Mein Fazit ist deshalb: Kirche muss sich stärker als Dienstleister der Kirchengemeinden sehen. Betriebswirtschaftliche Beratung zur Beschleunigung von Verwaltungsaufgaben kann dabei sicherlich sehr hilfreich sein. Ziel muss es aber sein, Kirchengemeinde, Kirche und Religion auch im öffentlichen Bewusstsein wieder als Einheit wahrnehmbar zu machen. Kirchliche Dienstleistungen nur noch oder doch primär über den Weg über Gemeinde anzubieten, wäre neben der stärkeren Zuarbeit von der Kirche an die Gemeinden eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen.
Lesen Sie hier das ganze Interview:
http://www.sozialarbeit.ch/kurzinterviews/anna_stoeber.htm
Überbracht nach einem Tipp von Herrn Pschierer von Johannes Taig